VfGH Erkenntnis: Minderjährige müssen Mindestsicherung erhalten, wenn die Eltern den Aufenthaltsstatus „Angehöriger“ haben !!!

Mag.a Sibylle Wagner, Koordination SozialRechtsNetz – DIE ARMUTSKONFERENZ, Austria, 1150 Vienna, Herklotzgasse 21/3, Mobil: +43-660-9480484, Fax: +43-1-402 69 44 19, SozialRechtsNetz@armutskonferenz.at , http://www.armutskonferenz.at

hat uns zu diesem wichtigen VfGH Erkenntnis Informationen geschickt:

Sachverhalt: alleinerziehende Mutter nigerianische Staatsangehörigkeit mit Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“, da minderjährige Tochter österreichische Staatsangehörige; Antrag auf BMS wurde gem. §5 Wiener MindestsicherungsG abgewiesen, da Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ nicht in taxativ aufgezählten Aufenthaltstiteln und somit nicht öst.Staatsangehörigen gleichgestellt; nach Rechtslage des WMG sind ausschließlich volljährige Personen anspruchsberechtigt;
Beim Verfassungsgerichtshof sind auf Grund der Konstellation, dass damit auch die in Notlage befindende österreichische Minderjährige (Tochter) von BMS Anspruch ausgeschlossen wird, Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des § 5 WMG und des Wortes „anspruchberechtigen“ in § 7 Abs. 1 WMG entstanden.
Der VfGH kam nun im aktuellen Erkenntnis zu der abschließenden Erwägung, dass es salopp gesagt unsachlich ist, wenn eine österreichische Minderjährige nur mittelbar über ihre anspruchsberechtigten Obsorgeberechtigten versorgt werden können, diese Obsorgeberechtigte jedoch mit Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ (der auf Grund des österreichischen Kindes erteilt wurde) vom Kreis der Anspruchsberechtigten ausschließt.
 
Indem der Wiener Landesgesetzgeber einerseits Personen mitdem Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG vom Kreis
der Anspruchsberechtigten nach dem WMG ausschließt und andererseits vorsieht, dass minderjährige österreichische Staatsbürger nur mittelbar über ihre nach dem WMG anspruchsberechtigten Obsorgeberechtigten versorgt werden können, hat er eine unsachliche Regelung geschaffen, die insofern ihren eigentlichen Zweck, nämlich die Beseitigung bestehender Notlagen, verfehlt. (S. 16)
 
Dies führte im Ergebnis zu der Erklärung, dass die Wortfolgen in §5 Abs.2 Z3 WMG („“Daueraufenthalt – EG“ oder „Daueraufenthalt – Familienangehöriger“, denen dieser Aufenthaltstitel“, „§45 oder §48“ und „erteilt wurde““) als verfassungswidrig erkannt wurden und bereits am Donnerstag so im LGBl Wien kundgemacht wurde.
Zitate aus dem Prüfungsbeschluss des VfGH:
3.3. § 7 WMG scheint zu bewirken, dass ein Anspruch auf Mindestsicherung nur Bedarfsgemeinschaften zusteht, dh. einer gemeinsam lebenden Gruppe von Personen, von denen jede bedürftig und anspruchsberechtigt ist. Wie diese Bedarfsgemeinschaften bei volljährigen Personen zu bilden sind, regelt § 7 Abs. 2 WMG. Bei minderjährigen Personen setzt die Zuerkennung des Mindeststandards anscheinend voraus, dass sie mit zumindest einem Elternteil oder einer sonst obsorgeberechtigten Person im gemeinsamen Haushalt leben und diese Person selbst einen Anspruch auf Mindestsicherung hat, der dann auch der für das Kind gebührende Mindeststandard zuerkannt wird (§ 7 Abs. 2 Z 3 iVm
Abs. 1 letzter Satz WMG).
(…)
3.4.1. Nun ist der Gesetzgeber zwar nicht gehalten, Leistungen der Bedarfs-
orientierten Mindestsicherung (bzw. der Sozialhilfe) in unbeschränkter Weise zu gewähren. Der Verfassungsgerichtshof hat auch in ständiger Judikatur zu steuerfinanzierten Transferleistungen zum Ausdruck gebracht, dass der Gesetzgeber bei Verfolgung rechtspolitischer Ziele frei ist (vgl. VfSlg. 8.541/1979). Der dem Gesetzgeber grundsätzlich zustehende Gestaltungsspielraum wird durch das Gleichheitsgebot nur insofern beschränkt, als es ihm verwehrt ist, Regelungen zu
treffen, für die eine sachliche Rechtfertigung nicht besteht (vgl. VfSlg.
19.698/2012).
3.4.2. Dem Verfassungsgerichtshof erschließen sich in diesem Zusammenhang jedoch vorerst keine sachlichen Gründe dafür, Drittstaatsangehörigen, denen in Österreich ein Aufenthaltsrecht als ‚Familienangehörige‘ iSd § 47 NAG zukommt, das Existenzminimum nach mindestsicherungsrechtlichen landesgesetzlichen Vorschriften für sich und ein minderjähriges Kind österreichischer Staatsangehörigkeit zu verweigern, obschon sie für das im gemeinsamen Haushalt lebende Kind unterhaltspflichtig sind. Für eine Person, welche die Obsorgepflicht
(und damit auch die unterhaltsrechtliche Pflicht zur Bedarfsdeckung) für einen mit ihr in Wohngemeinschaft lebenden minderjährigen österreichischen Staatsangehörigen trifft und deren Aufenthaltsrecht daher bei Fehlen besonderer Versagungsgründe ein voraussichtlich dauerhaftes sein wird, vermag der Verfassungsgerichtshof vorerst keinen sachlichen Grund dafür zu erkennen, diesen Sachverhalt in Bezug auf den Anspruch auf Mindestsicherung grundlegend anders zu behandeln als im Falle des Bedarfes von Personen, denen ein Aufenthaltstitel ‚Daueraufenthalt – EU‘ im Sinne des § 45 NAG iVm § 8 Abs. 1 Z 7 NAG bereits zukommt, ist doch das Aufenthaltsrecht ‚Familienangehörige‘ in der Regel eine Vorstufe zu diesem dauernden Aufenthaltsrecht, wie aus § 8 Abs. 1 Z 8 NAG
hervorgeht. Anscheinend unterscheidet sich das Wiener Mindestsicherungs gesetz in dieser Frage auch von den Mindestsicherungsgesetzen aller anderen Bundesländer.
 
(…) Das Fehlen der Anspruchsberechtigung des obsorgeberechtigen Elternteils des Minderjährigen trotz bestehender Notlage dürfte beim minderjährigen Kind dieser Person zum Verlust des Unterhaltes und dadurch sogar im besonderen Maße zu einer Notlage führen. Daher dürfte § 7 Abs. 1 letzter Satz WMG in dem in Prüfung gezogenen Umfang insofern gegen das Sachlichkeitsgebot des Gleich-
heitssatzes verstoßen, als er minderjährige österreichische Staatsangehörige aus Gründen, die nichts mit dem Bestehen der Hilfebedürftigkeit zu tun haben, vom Bezug von Leistungen der Mindestsicherung ausschließt.
Zitate aus den Erwägungen des VfGH Erkenntnisses:
Der Gesetzgeber ist daher nicht gehalten, Leistungen der
Mindestsicherung (bzw. der Sozialhilfe) in unbeschränkter Weise zu gewähren, wenn dies eine Förderung rechtspolitisch unerwünschter Ziele zur Folge hätte (vgl. VfSlg. 5972/1969 und 8541/1979); ist allerdings in einem vom Gesetzgeber eingerichteten System der Sicherung zur Gewährung eines zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Mindeststandards der Zweck, dem betroffenen
Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet, dann verfehlt ein solches Sicherungssystem offensichtlich insoweit seine Aufgabenstellung (VfSlg. 19.698/2012; VfGH 7.3.2018, G 136/2017 ua., Rz 123 ff.).
Indem der Wiener Landesgesetzgeber einerseits Personen mit
dem Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG vom Kreis der Anspruchsberechtigten nach dem WMG ausschließt und andererseits vorsieht, dass minderjährige österreichische Staatsbürger nur mittelbar über ihre
nach dem WMG anspruchsberechtigten Obsorgeberechtigten versorgt werden können, hat er eine unsachliche Regelung geschaffen, die insofern ihren eigentlichen Zweck, nämlich die Beseitigung bestehender Notlagen, verfehlt. Die Möglichkeit, Leistungen im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung zuzusprechen (vgl. § 39 WMG), ist nicht geeignet, diese Unsachlichkeit auszugleichen (vgl. VfGH
7.3.2018, G 136/2017 ua., Rz 127).
Zur Herstellung eines Rechtszustandes, gegen den die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken nicht bestehen, genügt es festzustellen, dass die Wortfolgen „„Daueraufenthalt – EG“ oder „Daueraufenthalt – Familienangehöriger“, denen dieser Aufenthaltstitel“, „§ 45 oder § 48“ und „erteilt wurde“ in § 5 Abs. 2 Z 3 WMG, LGBl. für Wien 38/2010, verfassungswidrig waren. Es bleibt dem Wiener Landesgesetzgeber überlassen, auf welche Weise er sicherstellt, dass alle
minderjährigen Staatsbürger in einer Notlage Bedarfsorientierte Mindestsicherung erhalten.
Nachfragen bei Mag.a Sybille Wagner direkt. Kontaktdaten siehe oben
Landesgesetzblatt Wien  LGBLA Wien
 
 
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